Es gilt das gesprochene Wort!Andreas_Geisler2

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Dubrau, sehr geehrte Bürgermeister, werte Damen und Herren Stadträte,
sehr geehrte Gäste und Zuschauer, die sie sich die Zeit heute hier oder für die Übertagung im Internet genommen haben.

Auf dem Weg zu inklusiver Bildung.
Inklusion in der Gesellschaft geht – da denke ich, sind wir uns alle einig – weit über die Bildungspolitik hinaus. Die Inklusion bedeutet eine Gesellschaft komplett so zu gestalten, dass jedes Mitglied, der dieser Gesellschaft unabhängig seiner eigenen Fähigkeiten, der eigenen sozialen, ethnischen, kulturellen oder gesundheitlichen Geschichte gleichberechtigt und selbstbestimmt, am Zusammenleben teilhaben kann. Soweit klingt es einfach aber es ist eben auch wieder kompliziert. Genau deshalb ist inklusive Bildung auch als ein soziales Projekt zu verstehen. Denn sie trägt dazu bei Persönlichkeitsentwicklung stärker an den Bedürfnissen und Erfordernissen junger Menschen auszurichten.

Lassen Sie mich das etwas näher ausführen:

In vielen Kindertagesstätten ist es völlig normal, dass alle Kinder eines Jahrganges spielerisch zusammen die Welt entdecken. Dabei spielen die individuellen Herkunftsgeschichten meist keine Rolle. Für diese Kinder ist es völlig normal, sich gegenseitig so zu akzeptieren, wie sie sind. Und, es ist normal, sich gegenseitig zu unterstützen.
Sie haben sicherlich auch kürzlich im Netz das Video gesehen, in dem ein Kita-Kind auf die Frage hin, ob es in seiner Kita auch Flüchtlinge gebe, antwortete, dass es dort nur Kinder gibt. Ich gehe davon aus, dass es auch nicht anders geantwortet hätte, wenn die Frage nach einem Kind mit einer Behinderung oder Entwicklungsstörung gekommen wäre.
Und genau hier liegt die Chance: Inklusion ist dann erfolgreich, wenn sie von Anfang an – von Kindesbeinen an – gelebt und nicht künstlich übergestülpt wird. Sie lässt sich nicht verordnen. Sie muss von unten her wachsen.

Momentan klingt das aber alles wie Zukunftsmusik. Aber im Moment gelingt es uns ja noch nicht einmal alle Kinder – und da sprechen wir nicht von einem inklusiven Bildungssystem – in den Kitas gleichgut auf die Schule vorzubereiten. Der neue Leipziger Sozialreport macht es deutlich. Etwa 350 Kinder werden jedes Jahr zurückgestellt vom Schulbesuch. Fast jedes zweite Kind hat Sprachprobleme und jedes vierte beherrscht Deutsch als Bildungssprache nicht. Laut Sozialreport erhalten 14% der Kinder keine Empfehlung für eine Regelschule. Diese Zahlen alarmieren! Nicht nur, weil wir es uns nicht leisten können, Kinder in irgendeiner Art und Weise zurückzulassen, sondern auch, weil das ganze weitere Bildungssystem dann krankt, wenn schon der frühkindliche Bereich Risse zeigt. Denn was machen wir? Bieten wir ihnen in Zusammenarbeit mit dem Freistaat eine gute Vorschule? Nein wir schicken wir sie zurück in den Kindergarten im Zweifel in eine neue Gruppe und hoffen es wird von alleine.

Inklusive Bildung von Anfang an – von Kindesbeinen an. Und hierzu gehört nicht nur die Kita, sondern auch die Schule.

Schulen sind hervorragende Orte der Demokratiebildung und der Beteiligung. Nicht nur, weil sie Wissen über Demokratie, Teilhabe, Freiheit, solidarisches Miteinander und Verantwortung vermitteln, sondern auch, weil sie das Potenzial haben, dieses vor Ort zu leben, zu erfahren und im Idealfall in schulische Strukturen zu übertragen.
Potential, meine sehr geehrten Damen und Herren, meint dabei aber auch, dass die gegenwärtigen Bedingungen diesbezüglich noch stark ausbaufähig sind. Gerade mit Blick auf das mittelfristige Ziel inklusiver Bildung in Sachsen, auch in Leipzig, sehen wir, dass nicht jede Schule gleichstark ausgerichtet ist – pädagogisch wie baulich – inklusive Lösungen zu bieten. Warum ist das so?

Inklusive Schule braucht

  1. zuallererst die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Finanzierung. Und hier rede ich vom sinnvollen Zusammenspiel zwischen Bund, Land und Kommune. Und ich sage auch klar: Wir brauchen hier gerade auf Bundes- und Landesebene mehr politischen Willen, wollen wir nicht auf lange Sicht am zu engen und längst nicht mehr zeitgemäßen Rahmen scheitern. Ich bin zuversichtlich, dass Kommunen hier starke Partner im Prozess werden können – ihn alleine stemmen aber können sie nicht.

  2. eine baulich gänzlich andere Ausstattung. Und da geht es nicht nur um den nachvollziehbaren Fahrstuhl, sondern unter anderem um Freiarbeitsräume, Therapieräume, andere Sportgeräte, technische Hilfs-oder Heilmittel.

  3. eine bessere und neue Beratung sowie Ausbildung der Lehrkräfte (immer häufiger kommt es zu Situationen, in denen sich Lehrer weigern, ein Kind zu unterrichten, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr gewährleisten können).

  4. wissenschaftliche Begleitung, um ehrliche Schlüsse zu ziehen und die besten Lösungen zu finden.

  5. mehr amtliche Schulpsychologen, Sozialpädagogen und auch therapeutische Kräfte. Nur sie können jenseits der Lehrkräfte die für die Bewältigung dieser Aufgabe ebenfalls notwendige Elternarbeit ergänzen und alles vernetzen.

  6. das richtige Unterrichtsmaterial, um mit konkreten Herausforderungen im Unterricht auch angemessen umgehen zu können.

  7. Und inklusive Schule braucht in Leipzig das Verständnis einer Bildungsregion Leipzig, die im Zusammenspiel unserer Stadt mit den beiden benachbarten Landkreisen entwickelt wird.

Was können politische Schlussfolgerungen sein?

  1. Braucht es auch einen lokalen Umsetzungsplan zur Inklusiven Bildung im Freistaat, denn schließlich arbeiten wir in Leipzig nicht auf einer Insel. Leipzig kann – wie auch bei der Schulsozialarbeit – zwar eine inklusive Vorreiterrolle einnehmen, doch ohne den Freistaat wird sie kaum die finanziellen Anforderungen bewältigen können.

  2. Diskutieren wir diese Frage offen und ehrlich: Bauen wir Schwerpunktschulen für Inklusion in allen Leipziger Stadtbezirken und machen nicht überall ein „bisschen“ Inklusion oder aber haben wir wirklich die Kraft, jede Schule ideal auszubauen und auszustatten? Ein Blick auf den neuen Schulnetzplan sei an dieser Stelle dann auch erlaubt.

  3. Schaffen wir ausreichend Mobilität, damit alle Schüler und Auszubildenden gut ihre Bildungsorte erreichen. Selbstständig und selbstbestimmt. Und machen wir auch jene über Schülercards mobil, die für ihren Schulweg einen freigestellten Schülerverkehr benötigen. Es muss unser Ziel sein, dass sich auch Förderschüler ohne Schranken an der Gesellschaft beteiligen!

  4. Nehmen wir alle mit auf dem Weg zu Inklusiver Bildung. In Vorbereitung auf diese Rede habe ich zahlreiche Gespräche mit verschiedenen Partnern gesucht, so mit dem Arbeitskreis Förderschulen im Stadtelternrat und im Landeselternrat, dem Betreiber einer Werkstatt für behinderte Menschen, mit Lehrern und Schulleitungen verschiedener Schulen.

Das hat mir gezeigt: Es gibt ganz unterschiedliche Bedenken und Sorgen.

Ein Arbeitskreis Förderschulen der Förderschulen als geschützten Lernort schätzt und Angst vor plötzlichen Veränderungen hat,
ein Chef einer Behinderten Werkstätte der in mir Zweifel gesät hat, ob wir jeden Menschen mit inklusiver Bildung erreichen können,
Lehrer die wir als Partner dringend brauchen, die sich im Freistaat aber oft genug nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen und
Schulleitungen die mit ihrer rein pädagogischen Ausbildung immer mehr und komplexere Aufgaben zu bewältigen haben.

Sie sind aber eben auch starke Verbündete in der Sache denn sie alle stellen sich dem Thema.

Wir werden inklusive Bildung in Sachsen nicht von heute auf morgen zu 100 Prozent umsetzen können. Wir können aber damit beginnen – auch von Leipzig aus – uns in kleinen aber bestimmten Schritten diesem Ziel zu nähern. Das wichtigste dabei für uns als Politikerinnen und Politiker wird sein, mit denen zu sprechen, die Erfahrung, Knowhow und besonders einen praktischen Blick haben, um sie in unsere Entscheidungen auch hier im Rat stärker einzubeziehen.

Und vor allem: MIT ihnen zu sprechen. Nicht ÜBER sie.

Und lassen wir inklusive Bildung nicht in der Schule enden, sondern führen sie fort in Berufsausbildung und ersten Arbeitsmarkt, auch das lässt sich nicht überstülpen aber sicher mit einer klugen Anreizpolitik günstig beeinflussen, aber leider ist das heute nicht das Thema und die Redezeit ist zu kurz dafür.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit